„Kein Mann in Sicht“ – Bad Waldsee

Ausstellung „Kein Mann in Sicht“ in der städtischen Galerie in Bad Waldsee!
Vernissage am Sonntag, den  19-07-2020 um 11 Uhr
Öffnungszeiten täglich von 10-19 Uhr bis 6-09-2020

Laudatio zu „Kein Mann in Sicht“ von Thomas Warndorf

Kein Mann in Sicht. Klingt das jetzt hoffnungsvoll oder ängstlich? Wird gänzlich emotionslos ein Mangel konstatiert oder geht es um die Zukunft der Menschheit, die alle Emanzipationsproblematik überwinden will? Steht das Ende der Menschheit zur Debatte oder haben die Frauen nun doch den Krieg der Geschlechter gewonnen?
Oder ist der Titel ganz anders gemeint? Wir werden sehen. Einen Hinweis gibt Katja Gehrung und berichtet von einer Gesellschaft, in der einerseits eine schier unendliche Menge an Partnern zur Verfügung steht. Aber, so sagt sie, das Rollenbild der Frau sei deswegen nicht aufgelöst. Sie bleibt die Wartende, um schließlich mitzuteilen: Kein Mann in Sicht. Hauptinstrument der Suche: Das Fernglas oder das Fernrohr. Das Symbol der Suche fehlt selten auf den Arbeiten.
Katja Gehrung fotografiert digital mit einer Vollformatkamera, also mit einem elektronischem Bildsensor, der, in die analoge Fotowelt gewandelt, etwa dem Kleinbildformat 24 x 36 mm entspricht. Sie arbeitet mit Stativ und Fernauslöser, setzt analoge Filter ein und arbeitet digital nach. Die Arbeiten sind sowohl in Schwarz-Weiß wie in gedeckter Farbigkeit gehalten. Die Kamera wird oft tiefgestellt, beinahe eine Froschperspektive, so kann im Bild eine erstaunliche Weitenwirkung erzielt werden. Gedruckt wird direkt auf AluDibondplatten. Damit werden auffallende dreidimensionale Effekte erzielt. Zur Weite kommt die Tiefe im Bild. Zusätzlich erzeugt der metallene Untergrund einen erstaunlichen Hologramm-Effekt. Je nach Stellung beim Betrachten produziert die Lichtbrechung Bewegung im Bild, lässt Figuren oder Gegenstände strahlen, selbst die Himmel scheinen zu leuchten. Eine doppelbödige Glitzerwelt tut sich auf.
Sie erzählt, dass sie für den Ablauf der Bildproduktion durchaus feste Abläufe hat. Wenn die Idee da ist und das kann überall und immer passieren, wenn der zugehörige Ort entdeckt wird, entstehen gedankliche Bildkonstrukte. Ausstattungselemente, Posen, wohl auch Stimmungen fügen sich in Gedanken hinzu, eine Gesamtvorstellung entwickelt sich. In der Produktion folgt sie ihren Vorgaben und begibt sich für das Foto in die Pose, die sie sich ausgedacht hat.
Ein Blick in ihre Homepage belegt nicht nur, dass sie sich ihr künstlerisches Werk, sie spricht von „Art Photographie“, stringent erarbeitet hat, von der analogen Fotographie über die eigene Dunkelkammer hin zur digitalen Aufnahme. Ab 2014 beginnt der Einstieg in die künstlerische Fotographie und die Auseinandersetzung mit sozialkritischen Themen. Ihre Arbeit findet rasch nationale und internationale Anerkennung, auf China komme ich noch zu sprechen. Der Ausstellungskanon spricht für sich: lieber Axel Otterbach. Gut, dass Bad Waldsee dabei ist. Weiteres kann man auf Gehrungs Homepage nachlesen.
Im Gespräch mit ihr stellt sich heraus, dass sie Situationen anspricht, die sie von sich selbst oder aus dem Kreis ihrer Bekannten kennt. Es sei halt nicht leicht. Man hätte einen Partner haben können, man dachte: ich wollte doch noch so viel mit Dir machen. Aus dem Traum wird leicht ein Trauma. Gehrungs Arbeiten, wenn ich sie betrachte, wandeln für mich immer auf einem Grat zwischen beidem, dem schönen Traum und dem bitteren Ende. Davon erzählt sie, immer mitten im Geschehen und sie präsentiert sich dabei als Objekt und als Subjekt zugleich.
Dabei klingt alles so einfach. Laut Stiftung Warentest sollen hierzulande mittlerweile rund sieben Millionen Singles auf diese Weise nach einem Partner fürs Leben suchen. Auch dem Alter ist dabei kaum eine Grenze gesetzt. Vor wenigen Jahren hatte die allgemeine Zielgruppe noch eine Altersspanne von 30 bis 50 Jahren. Inzwischen nutzen auch junge Erwachsene im Alter von 18 bis 29 und „Lebensabendgenießer“ zwischen 60 und 70 Jahren die Möglichkeit, sich online auf die Suche nach „Traumfrauen und Traummännern“ zu machen. Schön und gut.
Aber Suchen heißt halt nicht automatisch auch finden, und wenn vermeintlich doch, muss das auch noch nichts heißen. Mir scheint, als ob nicht wenige der hier gezeigten Arbeiten Facetten von Gefühlen manifestieren. Einsamkeit, Enttäuschung, Selbstinszenierung, auch eine erotische Komponente und vielleicht in die Selbstinszenierung eingebettet ein selbstbewusstes, kämpferisches Moment: Schaut her, hier bin ich. So bin ich. Das bin ich. Weshalb sieht mich keiner?
Selbstinszenierung, ästhetisch anspruchsvolles Bilderrätsel: Katja Gehrung hat etwas zu erzählen. Immer ist sie selbst zu sehen. Zuweilen vertritt die Bildästhetik bereits die Botschaft, ein wenig l’art pour l’art in selbstvergessener Schönheit schimmert immer durch. Man muss die Bildinhalte nicht immer sogleich untersuchen oder sezieren. Manchmal kann man Gehrungs Arbeiten auch einfach nur schön finden.
Man darf auch mal Lächeln beim Betrachten. Zum Beispiel, wenn man sich traut, das Arsenal von Badekappen zu zählen, die Katja Gehrung trägt. Schutz? Verfremdung? Oder nur modische Beigabe?
Dennoch steckt immer ein Konzept hinter der Installation, die sie inszeniert, mal ganz auf sich selbst reduziert wie bei einem Selfie, bei dem Raum und Umfeld bedeutungslos bleiben. Mal aber eingebettet in Landschaften, Straßen, Gebäude, Felder, Wälder. Dann können die Bilder auch einmal bedrohlich und morbide wirken: Puppen im Käfig, dunkle Bäume. Auch die Abgrenzung zwischen konstruiertem Bildaufbau und spontan erscheinender Handlung, die für einen Augenblick eingefroren scheint, ist fließend, da kann man sich beim Betrachten in die eine oder in die andere Richtung vorarbeiten. Jedes Foto eine Erzählung, jedes Foto viele Erzählungen. Man kann sich darin verlieren. Es ist eine Art Doppelbödigkeit in Gehrungs Arbeiten, die durchaus auch verunsichern kann. Schöner Schein und bittere Wahrheit. Täter und Opfer. Jäger und Gejagte. Freudvolle Erwartung und demütigendes Warten. So als wolle Gehrung immer fragen: Lohnt denn der ganze Aufwand?
Jedenfalls aber: Sie, die Künstlerin immer mitten darin in dieser Selbstinszenierung, diesem Selfie, das sie als Rollenspiel in ihre Arbeiten einbringt. Und zugleich hinterfragt. Denn oft ist ihr Gesicht gar nicht zusehen. Ein Selfie ist ein Selfie ist kein Selfie.
Das Selfie. Was ist das? Die prollige Variante des Porträts? Das Sinnbild des äußeren Scheins? Die Markierung, dabei gewesen zu sein? Ein technisches Hilfsmittel örtlicher und gesellschaftlicher Verortung? Die Suche nach irgendeinem Halt, im Notfall nun eben bei sich selbst, das Selfie als das traurige Signal von Vereinsamung? Je offener man sich zeige, desto mehr habe man zu verbergen, sagen Psychologen.
Das Selfie, das postmoderne Manifest des Narzissmus, wohl auch des Exhibitionismus, tauchte 2002 erstmals in Australien auf und dann ließ es sich nicht mehr aufhalten. 2013 geriet der Begriff in England zum Wort des Jahres. Im gleichen Jahr präsentierte das Museum of Modern Art in New York eine Ausstellung namens „Art in Translation: Selfie, The 20/20 Experience“. Was wir hier in dieser Ausstellung sehen, scheint mir wie eine verfeinerte Fortsetzung damaliger Überlegungen. Mit Hilfe des Selfies sollten Kompositionsregeln der klassischen Porträtmalerei und professionelle Gestaltungsregeln gleich hinterfragt werden.
Gehrung spielt gern mit solchen Regeln. Die Ernsthaftigkeit des vermeintlich ehrlichen Porträts der akademischen Malerei stellt sie Selbstironie dagegen.
Da ruht Schalk, oder soll man sagen: Hinterlist, in ihren Arbeiten. Vielleicht, weil ihr die Lust an der Selbstinszenierung ebenso Vergnügen bereitet wie die ernsthafte Umsetzung des jeweiligen Projekts oder der Serie. Die Frage bleibt aber, ob die Interpretation solcher Selbstinszenierungen nur möglich ist in einem bestimmten kulturell-gesellschaftlichen Umfeld. In der europäischen Malerei war die Ironie immer denkbar als Bestandteil des Porträts, man denke nur an Goyas Porträts der spanischen Königsfamilie, Darstellungen schon auf dem Weg zur Karikatur. Betrachter eines Bildes der königlichen Familie erklärten, da sei nicht der spanische Hochadel zu sehen, sondern die Familie des Bäckers von nebenan. Der einzige, der die Ironie nicht erkannte, war der spanische König selbst.
So ist es auch in den hier gezeigten Arbeiten. Um ihre Bilder zu verstehen, muss man sich selbst betrachten. Es geht nicht um Interpretation des Bildes, es geht darum, sich im Bild selbst zu erkennen.
Katja Gehrung hat Verbindungen nach China, dort hat sie ausgestellt. Im Rahmen eines Kunstaustausches war sie im Museum in Kunming mit zwei Bildern aus der Serie „Die Einsamkeit der Hausfrau“ vertreten. Ich habe Katja Gehrung gefragt, ob chinesische Hausfrauen genauso einsam sein können wie deutsche, ob dem Publikum also nachvollziehbar war, was sie zeigte. Kein Problem, sagt sie. Ihr bildnerisches Spiel mit ironischen Elementen wurde auch dort, in einem ganz anderen Kulturkreis, nachempfunden, ihre Arbeiten seien dort nicht anders aufgenommen worden als hier bei uns. Ich bin nicht sicher, denn ihre Arbeiten sind ja nicht unpolitischer Natur. Die Inszenierung gesellschaftlicher Verhältnisse, die Inszenierung von Macht und Ohnmacht ist mit kritischem Unterton immer bei ihr zu sehen, und manchmal kann es die blanke Höflichkeit sein, zu lächeln, wo man eigentlich nicht lächeln sollte. Ich glaube mehr an die Treffsicherheit der Arbeiten von Gehrung, sie fängt Betrachter*innen ein in ihre Welt, so als sei man selbst die Puppe im Käfig. Bildet sie nur sich selbst ab und geht es irgendwie um das große Ganze?
In einer 2013 an der Universität Parma durchgeführten Studie stellte sich heraus, dass es für Selfies eine Vorliebe gibt, die linke Gesichtshälfte der Kamera zuzuneigen. Die Autoren sahen darin Übereinstimmungen zu Kompositionsregeln der klassischen Porträtmalerei. Sie interpretierten diesen Befund, dass Amateure spontan die gleichen Regeln anwenden, wie professionelle Maler, selbst wenn sie das Bild spiegelverkehrt aufnehmen, als eine Folge neurophysiologischer Unterschiede im Emotionsausdruck für beide Gesichtshälften. Einfach gesagt, ihre linke Gesichtshälfte hält eine Mehrheit der Menschen für die Schönere. Egal ob Mann oder Frau.
Dieselben Autoren stellen in einer späteren Studie solche Feststellungen wieder in Frage. In einem größeren Datensatz fanden sich merkliche Abweichungen von professionellen Gestaltungsregeln und Unterschiede zwischen Selfies, die von Personen mit bzw. ohne Fotoerfahrung aufgenommen wurden. Diese Befunde stellen wiederum psychisch fest verankerte Gestaltungsprinzipien in Frage und deuten eher auf kulturell-gesellschaftlich verankerte Regeln hin. Es gehe somit nicht um das „Ich“ im Porträt, sondern um das „Wir“, mithin die Verortung im gesellschaftlichen Umfeld.
Katja Gehrung liefert beides, den Blick in das „Ich“ und den Blick auf das „Wir“. Der Kunsthistoriker Harald Tesan sagt einmal über Gehrungs Arbeit: „Auf diese Weise ermöglichen Gehrungs (selbst)ironische Ich-Erkundungen kritische Annäherungen an eine sehr widersprüchliche Zeit.“
Das „Ich“ und das „Wir“, in Zeiten der Pandemie die alles und alle bewegende Frage nach der Ausgewogenheit dieses Verhältnisses zwischen Ego und Sozialisation, zwischen Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Anpassung. Eine Frage, wie sie wohl nie zuvor so deutlich gestellt wurde. Katja Gehrung stellt solche Fragen auch in ihrer Serie zu diesem Thema. Die Antworten kann man sich selbst ausdenken, das Feld der Interpretationen ist so weit.
Die Bilderwelt von Katja Gehrung ist künstlich geschaffen und kunstvoll arrangiert. Sie agiert als einsames Wesen inmitten enger oder weiter Räume, die schön, hässlich, romantisch und bedrohlich sind. Manchmal alles zugleich. Sie erscheint allein und ängstlich in schutzsuchenden Posen, und die gleiche Pose zeugt von ihrem Mut und ihrem Selbstbewusstsein, sich der Welt zu stellen, gar sich ihr zu widersetzen. Sie gibt sich im Bild selbst einen Halt, eine Verortung. Ihre Bilder sind theaterhaft, in Wahrheit sind sie aber Welttheater.
Und siehe da: dazu braucht es keinen Mann. Wenn dann doch einer in Sicht kommt, kann man ja immer noch darüber nachdenken, wozu er gut sein könnte. Da heißt es eben doch: Warten.
Liebe Frau Gehrung, ich sage Ihnen: es ist großes Welttheater, was sie zeigen. Man muss es gesehen haben. Und gefühlt.
Kurzum: Viel Kunst in Sicht. Viel Diskussion in Sicht. Viel Vergnügen in Sicht.
Thomas Warndorf